Identität und Diversität

Wie viel Unterschiedlichkeit braucht und verträgt eine Gesellschaft?

In seiner Inaugurationsansprache am 20. Januar 2021 hat der neue US-Präsident Joe Biden immer wieder seine Vorstellung von den vereinigten Staaten von Amerika betont: Dass seines Erachtens die Spaltungen und Verwerfungen der US-amerikanischen Gesellschaft vor allem durch Respekt vor der Andersartigkeit der Mitglieder der Gesellschaft überwunden werden können und dass dieser Respekt kein Verlustgeschäft sei, sondern eine Chance, dass – und da kam dann doch sehr viel US-amerikanisches Pathos zum Ausdruck – in den USA alles möglich sei, wenn man nur zusammen stehe.

Das Thema der Einheit in der Verschiedenheit, der Identität im Angesicht der Diversität ist ein Thema, das sich als politische und gesellschaftliche Aufgabe nicht nur in den USA stellt, sondern das auch in Europa und auch in Deutschland auf der Tagesordnung steht. Hinter der allenthalben erhobenen Forderung, mehr Diversität zu wagen und/oder zu zulassen, stehen in der Regel zwei Motivationen:

Einerseits soll und darf aus Andersartigkeit kein gesellschaftlicher Nachteil erwachsen. Die Diversitätsforderung hat also in diesem Sinne viel mit der Abwehr von Diskriminierung und der Berücksichtigung des grundgesetzlich garantierten Prinzips der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zu tun.

Andererseits aber ist die Diversitätsforderung auch mit der Hoffnung verbunden, dass dadurch zusätzliche Kreativität freigesetzt wird, sich Innovationskraft steigert und die Entwicklung der Gesellschaft befördert wird. Schliesslich ist ja sowohl aus Biologie und Genetik, aber auch aus der eigenen Lebenserfahrung allzu bekannt, dass langes Schmoren im eigenen Saft nicht wirklich die Entstehung von Neuem und Fruchtbarem befördert.

Nun ist es aber alles andere als klar und einfach auszumachen, wie aus Diversität Identität entstehen kann, wie erreicht werden kann, dass Unterschiedlichkeit als Chance ergriffen wird und sich nicht vor allem als trennendes Moment auswirkt. Nicht zuletzt wirkt vernebelnd, dass die Begrifflichkeiten „Identität“ und „Diversität“ selbst sehr komplexe Phänomene bezeichnen, die zunächst aufgehellt werden müssen, um die sich im Umgang mit diesen Phänomenen stellenden Fragen befriedigend beantworten zu können. Die Lust am Denken Anfang Februar soll einen Schritt zur Erhellung der genannten Phänomene unternehmen.